
Bereits 480 v. Chr. unternahm der Karthager Himilkon eine handelsorientierte Reise zu den «Zinninseln» und erreichte dabei nach der Umschiffung des heutigen Spaniens und Frankreichs den äußersten Südwestpunkt Britanniens, doch handelte es sich hierbei nicht im eigentlichen Sinne um eine Forschungsfahrt.[1] Dank Solinus, einem Geographen des 3. Jhs. n. Chr., der den Begriff des Mare mediterraneum prägte,[2] sind wir über den rührigen Händler und Seefahrer Pytheas aus dem heutigen Marseille, im Altertum Massalia, gut unterrichtet: Er wurde um 380 v. Chr. geboren und starb wohl um 310. Massalia war bereits dem Geographen Strabon, dem vehementen spätantiken Kritiker seiner Berichte, nicht mehr als Handelsstadt bekannt, womit sie das Schicksal der einmal blühenden Städte Karthago und Aigina teilte.[3]
Seefahrt und Geographie
Zum Fortschritt der Geographie trug Pytheas zum einen durch seine Seefahrten in den Griechen und anderen Mittelmeervölkern noch unbekannten entlegenen Gebieten bei, zum anderen durch die Bestimmung der geographischen Breiten, womit er die astronomische Methode des unwesentlich älteren Mathematikers und Geographen Eudoxos von Knidos aus der eigenen nautischen Erkundung heraus fortentwickeln konnte. Von Massalia ausgehend erlaubte ihm diese Kenntnis genaue Positionsberechnungen in Kreisteilen.[4] Die von ihm angewandte Messtechnik, die er in seiner Heimatstadt mit hoher Genauigkeit anhand des eigenen Schattens bestimmte, wurde später von Hipparchos von Rhodos zur Breitenbestimmung verwendet und weitergeführt. Noch Eratosthenes berief sich auf seine astronomischen Beobachtungen, insbesondere auf die Berechnung der nördlichen Breiten.[5] Der Gelehrte Poseidonios von Rhodos verteidigte ihn am Ende des ersten vorchristlichen Jahrhunderts gegen seine Kritiker und akzeptierte seine Methodik ebenso wie Einzelheiten der Berichte, unter anderem den Feldbau auf Tyle, der mehr legendären als wirklichen Insel oder Landschaft Thule.[6] Die Reisen des unerschrockenen Händlers aus Massalia, der es – da er der Lehre des Eudoxos von der Kugelgestalt der Erde glaubte – wagte, über Gibraltar hinauszusegeln, fallen nicht zufällig in eine Zeit, als Alexander der Große weit in den Osten vordrang, um das hellenistische Reich zu erweitern.
Durch die Zeugnisse über seine Schrift Perí tu okeanú (Über das Weltmeer) sind wir von seinem Vorgehen bruchstückhaft informiert. Er gelangte auf seiner mindestens zweijährigen Reise nach der Passage von Gibraltar über Gades und das Kap Ortegal zur Loire und bis zum britannischen Belerium, dem heutigen Cornwall.[7] Pytheas beobachtete und maß Sonnenhöhen, Tageslängen und Fluthöhen, identifizierte von nordwestlicher Seite das heutige Großbritannien als Insel und gab ihm als erster den Namen Pretanniké. Allerdings schätzte er Form und Gesamtgröße nicht richtig ein, vielmehr schrieb er der Insel eine Dreiecksgestalt zu. Solche Ungenauigkeiten können dazu geführt haben, dass ihn spätere Forscher, voran Strabon, Eratosthenes und Plinius der Ältere als Lügner abstraften. Sein Werk enthielt übrigens auch Nachrichten über die jeweiligen Küstenvölker, was deutlich macht, dass er häufiger an Land gegangen sein muss oder an bestimmten sicheren Häfen Erkundigungen einzog. Von Thule aus sollen Waren für den täglichen Gebrauch nach Pretanniké verschifft worden sein, was unwahrscheinlich ist, da Lebensmittel aus Anbau und Wolle auch dort verfügbar waren und Island im Altertum diese nicht bieten konnte.[8]
Mythische Reiseziele

Dass Pytheas eine heute nicht mehr vorhandene Insel Thule im Nordmeer, die übrigens auch Herodot nennt, erreichen konnte, kann sicher als Erfindung gelten – ebenso wie die zeittypischen Vorstellungen der Hyperboreer als Volk jenseits des fernen Nordens; vielleicht war es auch nur ein Übername für unerkundete nördliche Weltregionen. Die mythischen Hyperboreer wurden in der Gedankenwelt der Antike genauso wie die polaren Inuit gerne auf Thule angesiedelt. Der (Nord-)Pol selbst wurde zu dieser Zeit als paradiesischer Ort imaginiert.[9] Ultima Thule galt allgemein als der äußerste benennbare Nordpunkt der antiken Welt. Nach Pytheas‘ Angaben befindet sich Thule von Bretannia sechs Tagesfahrten entfernt, die wahrscheinlich allenfalls in Lederbooten möglich waren wie sie Plinius der Jüngere erwähnt und wie sie heute noch bei den Inuit in Gebrauch sind.[10] Es könnte sich bei den nicht eindeutigen Ortungen, setzt man eine genaue Erinnerung bei ihm voraus, demnach um die Shetland- oder Orkney-Inseln, Island, die Färöer, Mittelnorwegen oder vielleicht sogar Finnland gehandelt haben, denn Pytheas beobachtete die Mitternachtssonne bei kurzer Nachtdauer; Angaben für eine exakte Lokalisierung fehlen.
Immerhin taucht bei Plinius dem Jüngeren die Nennung der Insel Berriké auf, von der aus angeblich Thule regelmäßig angesegelt wurde.[11] Aus diesem Grund wurde Thule häufig mit Island gleichgesetzt. Wenn man Gustav Hergts und Richard Hennigs Interpretation folgt, dann ließe sich jedenfalls Berriké als Zentrum der Shetland-Inselgruppe ausmachen[12] und könnte von Pytheas angesteuert worden sein, was aber nicht sicher ist. Oliver H. Herde geht in seiner neueren Arbeit aufgrund genauer Vergleiche bei den älteren Autoren nach Pytheas wie Eratosthenes, Strabon und durch die Zitate bei dem Mathematiker und Philosophen Geminos in dessen Einführung in die Astronomie aus dem 1. Jh. v. Chr.[13] eher davon aus, dass bei einer Bezeichnung des Breitengrads um 65 Grad, also auf einer Linie zwischen Skandinavien und Pretanniké die Färöer- und Shetlandinseln nicht in Frage kommen.
Es verdichten sich vielmehr, da die nur fragmentarisch durch spätere Autoren erhaltenen Angaben des Forschers aus Massilia selbst offenbar immer noch die zuverlässigste Quelle darstellen, Hinweise auf einen Küstenstrich in Mittel- oder Nordnorwegen, denn die als lang gezogen beschriebene Küste und die Erwähnung von Flüssen, möglicherweise ihre Austritte in den Fjorden lassen an das äußerste westliche Norwegen denken. In Nordnorwegen könnte Pytheas auch auf das Eismeer, die von ihm genannte «träge und geronnene See» gestoßen sein, die unklar zuerst als «Lebermeer» übersetzt wurde. Im 20. Jh. glaubte man weitgehend, Pytheas habe auf Eisschollen hingewiesen.[14] Tatsächlich meinte er etwas anderes, wenn er von einer «Meerlunge» schrieb, bei der es sich um eine bestimmte Art von Quallen, pulmo maris, gehandelt haben dürfte,[15] die sozusagen einen Teppich auf dem küstennahen Meer bildeten. Ob er mit den Voraussetzungen der antiken Schiffe und ihrer Segeltechnik so weit in den Norden vordringen konnte, erscheint anderen heute noch zweifelhaft. Aber weshalb sollte er seine Leser betrogen haben, wenn sich so viele seiner Angaben als hochwahrscheinlich oder richtig erwiesen haben?
Auf den Wegen des Bernsteinhandels vorbei an der legendären keltischen Insel Abalus segelte Pytheas an der Nordseeküste entlang bis zur Rhein- und Elbemündung weiter. Den Don, der im Altertum den Namen Tanais trug, erwähnte er als Endpunkt seiner Reise, bezeichnete damit aber wohl lediglich den erreichten Längengrad. Seine Reisen zusammenfassend gab er an, Europa von Cádiz – an der spanischen und französischen Westküste über Skandinavien – bis zum Don umsegelt zu haben, weshalb er den Ozean als «Fessel der Welt» deuten konnte.[16] Es gibt heute weniger Gründe denn je, an seiner auf der Höhe der Zeit beschriebenen Fahrt Zweifel zu hegen. Vielmehr dichteten ihm spätere Autoren und Kritiker zahlreiche Unwahrheiten an und verspotteten ihn als Fabeldichter.
von Dr. Hanns-Peter Mederer, Erfurt
[1] Vgl. Karl Jürgen Hepke: Der Weg zu den Zinninseln. http://www.tolos.de/zinninsel.html (Abruf 2014)
[2] Rainer Nickel: Lexikon der antiken Literatur. Düsseldorf, Zürich 1999. S. 162.
[3] Vgl. Walter Ameling: Karthago. Studien zu Militär, Staat und Gesellschaft. München 1993. S. 270f. u. Fußn. 169.
[4] Oliver H. Herde: Ein großer antiker Entdecker: Auf den Spuren des Pytheas von Massalia. Magisterarbeit 2006. http://ohher.de/Geschichte/Pytheas.htm (Abruf 2014).
[5] Daniela Dueck: Geographie in der antiken Welt. Darmstadt 2013. S. 110.
[6] Vgl. Dietrich Stichtenoth: Pytheas von Marseille: Über das Weltmeer. Die Fragmente. Weimar 1959. S. 79.
[7] Dueck 2013. S. 69. Den Originaltext der Fragmente bietet Hans-Joachim Mette: Pytheas von Massalia. Berlin 1952.
[8] Herde 2006, Kap. Die Pretannike.
[9] Vgl. Jean Malaurie: Mythos Nordpol. 200 Jahre Expeditionsgeschichte. Hamburg 2003. S. 8.
[10] Herde 2006, Kap. Abstecher nach Thule.
[11] C. Plinius Secundus: Naturalis Historiae 4.104 (4.30) nach der Übersetzung von Roderich König u.a. Zürich 1973-1995. zit. n. Herde 2006. Fußn. 50.
[12] G. Hergt: Die Nordlandfahrt des Pytheas. Halle 1893. S. 48 u. R. Hennig: Von westlichen Ländern. München 1925. S. 108. Zit. n. Herde 2006. Fußn. 51.
[13] Metzler Lexikon Antike. Hg. von Kai Brodersen u. Bernhard Zimmermann. 2. Auflage. Stuttgart 2006. S. 203.
[14] Vgl. z.B. John and Harriet Frye: North to Thule. Chapel Hill (North Carolina) 1985.
[15] Vgl. Stichtenoth 1959. S. 82.
[16] Vgl. ders. 1959. S. 86 – 95.