Über 7000 Götter und Heroen hat der Privatgelehrte Dieter Macek in einem einzigen Stammbaum verzeichnet. Dafür brauchte er 33 Jahre und mehr als 50 m Papier. Derzeit ist sein Kunstwerk in der Ausstellung «Pergamon – Panorama der antiken Metropole» in Berlin zu sehen. Im Interview erzählt Dieter Macek von der Entstehung des Stammbaums, was die griechische Mythologie ihm bedeutet und warum er mit Göttern nichts anfangen kann.
Können Sie sich an Ihre früheste Begegnung mit den griechischen Sagen erinnern?
Ja, sehr gut. Ich war ungefähr 13 Jahre alt, als ich im Geschichtsunterricht erstmals von griechischen Sagen hörte. Meine Fantasie geriet in Bewegung. Endgültig gefesselt hat mich diese Thematik, als mir meine Salzburger-Oma zum 16. Geburtstag «Die Sagen des klassischen Altertums» von Gustav Schwab schenkte.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, eine Gesamtgenealogie der griechischen Götter und Helden zu schaffen?
Jahrelang haben mich die Göttinnen und Götter mit ihren Ehepartnern, Liebschaften, ihren vielen Kindern, Enkeln und Kreuz- und Querverbindungen beschäftigt – und heillos durcheinander gebracht. Um Ordnung in meinem Kopf zu schaffen, erstellte ich für mich einige erste Genealogien. Den Anfang machte Io mit Zeus, dann die Tantaliden, die Dardaniden und einige mehr. Als sie einmal in meinem Wohnzimmer nebeneinander auf dem Boden lagen, kam mir die Idee: «Wenn du die nach oben zusammen- und nach unten weiterführst, dann müsste sich eine beachtliche Genealogie ergeben.» Ohne die geringste Vorstellung von dem zu haben, was da auf mich zukommt, beschloss ich, das Werk zu beginnen.
Über 30 Jahre dauerte es, bis Sie den Stammbaum der Götter vollständig zusammengetragen hatten. Wie gingen Sie bei Ihrer Arbeit vor? Und wie behielten Sie bei all den Namen den Überblick?
Der Anfang war chaotisch. Erst nach und nach erarbeitete ich mir Strukturen. Dennoch hätte ich die Arbeit nie bewältigt, wenn nicht die neuen Technologien ungeahnte Möglichkeiten eröffnet hätten.
Am Boden meines Wohnzimmers lag – zusammengeklebt aus vielen Zetteln – der graphische Teil. Nach und nach arbeitete ich die gesamte, für mich erreichbare alte griechische Literatur durch, nahm jede aufscheinende Figur in ein alphabetisches Verzeichnis auf, verfasste dazu Texte und trug die Figur in den graphischen Teil ein. War eine Einbindung nicht möglich, dann nahm ich sie in ein «Verzeichnis der Nichteinbaubaren» auf. Als literarischer Leitfaden diente mir u. a. das Namensregister in Albrecht Dihles «Griechische Literaturgeschichte». Nach einigen Jahren ergaben sich nach letztem Stand 5703 in die Graphik Einbaubare und 2047 Nichteinbaubare. In dreijähriger Arbeit überprüfte ich anhand der 86 Bände der «Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft» alle 7750 Erfassten auf ihre literarische Richtigkeit. Zwei Jahre brauchte ich für die Übertragung vom graphischen Entwurf auf das heute vorliegende Original.
Welcher Gott bzw. Held hat es Ihnen besonders angetan? Warum?
Hierzu zitiere ich Bertold Brecht: «Arm ein Land, das Helden notwendig hat.» Es tut mir leid, aber mit Helden kann ich nichts anfangen, noch weniger mit Gottheiten.
Wer sich jahrzehntelang mit der Entwicklung von Glaubensrichtungen, Göttinnen und Göttern, Propheten und all jenen auseinander gesetzt hat, die im Laufe der Jahrtausende glaubten und noch immer glauben, das einzig Wahre zu glauben, und damit den für viele tödlichen Fehler begehen, das zu Glaubende als Wahrheit zu betrachten und zu verteidigen, hat nicht mehr die geringste Lust, selbst an das zu glauben, was bestimmte Menschen glauben und zudem noch als Göttliches oder Geheiligtes bezeichnen.
Ohne Zweifel: Das Glauben der Menschen an bestimmte, nicht fassbare und übernatürliche Kräfte sowie das Personifizieren dieser Kräfte hat vor Jahrtausenden der Angstfreimachung der eigenen Existenz gedient – es wurde damit zu einem wichtigen Teil der Überlebensstrategie. Die daraus entstandenen Religionen mit ihren Alleinvertretungsansprüchen haben sich aber zu Machtapparaten mit gewaltigen Unterdrückungsmechanismen entwickelt; sie berauben Menschen ihrer geistigen Freiheit, entmündigen und beuten sie aus.
Das Einzige, an das ich glaube ist, dass die Anhänger der Göttlichen und ihrer Propheten in ihrem Wahn stärker sein werden als die Aufklärung – und den Untergang der Menschheit herbeiführen. Deshalb habe ich ein Näheverhältnis zur Kassandra. Ich kann erfühlen, wie es ihr gegangen ist.
Haben Sie – nachdem Sie über 7000 Namen und deren Geschichten miteinander in Verbindung gesetzt hatten – das Gefühl, sich mit den griechischen Sagen gut auszukennen?
Wer kann das schon sagen! Unter dem Begriff «Griechische Sagen» verbergen sich hunderte Mythen, Sagen, Volksmärchen, Schauspiele, die Anfänge der modernen Psychologie und der Philosophie, ein Konglomerat verschiedener religiöser Entwicklungen, die Grundlagen unserer heutigen Religionen, politische Machtstrukturen und vieles mehr. Sicher habe ich mir in den letzten Jahrzehnten ein beachtliches Fachwissen angeeignet. Ich versuche es in meinen Begleittexten anzuwenden und möchte dabei klarstellen, dass es sich bei meinem Werk nicht um ein Werk der Geschichtswissenschaft, sondern um ein Kunstwerk handelt, das seine Wurzeln ausschließlich in der Literatur hat.
Warum sollte man Ihrer Meinung nach die Mythologie der Griechen kennen? Welche Bedeutung hat sie für unser heutiges Leben?
Sie ist fundamental! Die griechische Mythologie ist das Herz der Aufklärung und somit auch jener modernen heutigen Kultur, die alle alten Kulturen auf der Erde überlagert und radikal verändert (Dazu gehört Demokratie, Freiheit des Denkens, moderne Wissenschaft, Technik und vieles mehr). In dem riesigen Bereich der griechischen Literatur, den Sagen und Mythen und allem, was damit zusammenhängt, spiegelt sich unser Seelenleben.
Was war bzw. ist Ihr Ziel mit der Darstellung des Stammbaums?
Ich will nicht nur das bereits erwähnte Herz der modernen heutigen Kultur zeigen, sondern auch sichtbar machen, dass Religionen entstehen und vergehen; außerdem erleichtert mein Werk Interessierten den Zugang zur griechischen Literatur.
Etwa 98 % der 7750 erfassten Figuren verdanken ihre Existenz der Fantasie der Menschen – sie sind Geschöpfe des Geistes. Der Umfang des Werkes verdeutlicht, dass es sich bei der sog. «griechischen Mythologie» tatsächlich um eine gigantische vorchristliche Geisteswelt handelt, die von einfachsten Volkssagen bis zur höchsten Intellektualität alles umfasst.
Ihr Werk ist derzeit im Pergamonmuseum zu sehen: In einem quadratischen Raum reichen die Namen an allen vier Wänden bis kurz unter die Decke, ganz oben ist ein Spiegel angebracht. Was soll der Raum den Besuchern vermitteln?
Der Künstler Yadegar Asisi hat mein Werk zu einer künstlerischen Installation umgewandelt und in die Pergamonausstellung eingebaut. Er erklärte mir, dass sein Panorama, das die Stadt Pergamon, wie sie im Jahre 129 n. Chr. existiert hat, erlebbar macht, nur das Sichtbare der untergegangenen Stadt zeigt. Er glaubt, dass das Unsichtbare dieser Gemeinschaft von Menschen, nämlich ihre Seele, ihre Religion, die Literatur – kurz, das gesamte Geistesleben, – mit der von mir erarbeiteten Genealogie am besten sichtbar wird.
Nachdem der Besucher den dunklen, blutrot gestalteten und bedrückenden Raum der Herrscher, der Macht, der Sterbenden und Toten, die auf dem Weg zur Macht geopfert wurden, verlässt, betritt er einen strahlend weißen Raum des Friedens, des Lichtes und der Hoffnung. Er sieht sich umgeben von einer von Menschen erdachten Genealogie, einer bunten Welt der Göttinnen und Götter. Der Besucher beginnt zu lächeln und freut sich. Blickt er zum Spiegel an der Decke, erweitert sich der Raum «in den Himmel» und ermöglicht ihm, sich selbst – zentral eingebettet in die Welt der Göttlichen – so zu sehen, wie «die Götter die Menschen sehen». Er verlässt sich selbst und erkennt sich als Teil eines Ganzen. Sofort nach dem Verlassen des Raumes steht man direkt vor der Göttin Athena, der Göttin der Gerechtigkeit. Ein genialer Gedankengang des Herrn Asisi.
Ihr Werk zeigt vor allem, wie unübersichtlich und groß die Welt der griechischen Mythen ist. Welche Tipps würden Sie jemandem geben, der sich einen Überblick über die wichtigsten Göttersagen der Griechen verschaffen will?
Am einfachsten ist es, wenn man sich direkt an mich wendet (dieter@macek.at). Ich gebe mein Werk gerne für Bildungszwecke weiter.
Planen Sie in der Zukunft ein ähnliches neues Projekt?
Nein, mein Werk ist ein «work in progress» – ich werde bis zu meinem Lebensende weiter daran arbeiten. Derzeit erarbeite ich ein Verzeichnis der griechisch-römischen Nymphen mit ihren Mythen und Märchen, ca. 820 habe ich bis jetzt erfasst. Dann will ich ein Buch über die bis jetzt erfassten 149 Personifizierungen in der griechischen Mythologie schreiben. Es ist ein Fass ohne Boden und Deckel. Täglich tauchen neue Erkenntnisse auf.
Das Interview führte Leoni Hellmayr.